Der Artikel "Vom Sinn suchen und Sinn geben!" ist in der Zeitschrift healthstyle Ausgabe 01/2022 erschienen.
Der Jahresübergang lädt dazu ein, das alte Jahr Revue passieren zu lassen und sich auf das kommende Jahr einzustimmen.
Die Anfrage des healthstyle Magazins einen Artikel für die erste Ausgabe im neuen Jahr zu schreiben, war für mich eine willkommene Gelegenheit, innerhalb meiner Jahresrückschau beziehungsweise -planung das Thema Sinn aus einem für mich mittlerweile eingetretenen Pfad der Selbstverständlichkeit zu befreien und bewusst in den Mittelpunkt zu nehmen. Während des Schreibens dieses Artikels begab ich mich auf eine wundervolle Zeitreise zu den Anfängen meines heutigen Wirkens, die ich so vermutlich nie gemacht hätte und die mich großer Dankbarkeit erfüllt.
Bevor ich jedoch dazu weitere Worte formuliere, lassen Sie uns kurz den Begriff Sinn betrachten.
Was ist Sinn?
Der Begriff „Sinn“ wird in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen verwendet. Ich betrachte daher in diesem Beitrag den Begriff „Sinn“ von der philosophischen beziehungsweise soziologischen Seite.
Gerade das Wirken von Niklas Luhmann und Paul Watzlawick sind hier eine Bereicherung.
Luhmann definiert Sinn als laufendes Aktualisieren von Möglichkeiten. Der Begriff Sinn umfasst für ihn jegliche Ordnungsform menschlichen bewussten Erlebens. Demnach gibt es kein sinnloses Erleben.
Die Welt ist zu komplex, als allumfassend von einem Menschen erfasst zu werden. Nach Luhmann ist daher das konstruierte Bild der Welt immer eine Vereinfachung beziehungsweise eine Reduktion der Komplexität auf ein überschaubares Maß. Stellvertretend für die äußere Komplexität der Welt erzeugt der Mensch eine innere Ordnung.
Diesen Vorgang versteht Luhmann als Sinnbildung.
Watzlawick verfolgte in seinem Wirken den von Ernst von Glasersfeld und Heinz von Foerster eingeschlagenen Weg des (radikalen) Konstruktivismus weiter. In seinen Büchern „Wie wirklich ist die Wirklichkeit“ oder „Anleitung zum Unglücklichsein“ beschreibt er eindrücklich, wie Menschen ihre Wirklichkeit erzeugen beziehungsweise wie sie Ereignissen einen Sinn zuschreiben.
Wie ich Aktivurlauber wurde!
Bevor ich 2008 mein Wirken als Business Coach, Heilpraktiker für Psychotherapie und Systemischer Paar- und Familientherapeut begann, war ich im Vertrieb für Softwarelösungen tätig. Während meiner NLP-Ausbildungen zum Practitioner und Master, wurden im Rahmen der Selbsterfahrung auch Einzelcoachings angeboten. In einem dieser Einzelcoachings wurde der Grundstein für mein heutiges berufliches Wirken gelegt.
Ich hatte meinen Coachingtermin bewusst auf 17:00 Uhr gelegt, da ich diesen im Anschluss an einen Kundentermin wahrnehmen wollte. Der Plan wirkte gut und sah in meinem Terminkalender auch gut aus. Nach Blaise Pascals Zitat „Wenn du Gott zum Lachen bringen willst, erzähle ihm von deinen Plänen!“, kam es erstens anders und zweitens als geplant. Zuerst dauerte das Kundenmeeting länger als anberaumt und zweitens stand ich auf dem Weg zum Coaching mehrfach im Stau. Ich kam abgehetzt und außer Atem fast eine halbe Stunde zu spät.
Ich entschuldigte mich für meine Verspätung: „Oh Mann, sorry! Der Kundentermin ging länger und dann stand ich auch noch im Stau“.
Die Erwiderung meines Coaches: „Hast du mit deiner Zeit nichts Besseres anzufangen?“, kam für mich unerwartet, weil ich mit einer anderen Begrüßung gerechnet hatte. Sie war jedoch gut formuliert und passgenau, weil wir direkt bei meinem Thema für diesen Termin waren.
Ich sah keinen Sinn mehr in dem, was ich beruflich tat.
In meiner Zeit in den Bereichen Marketing und Vertrieb kam ich immer wieder an den Punkt, an dem ich mir Fragen stellte, beziehungsweise Aussagen traf wie:
- Welchen Sinn hat das, was ich hier mache?
- Wozu soll das hier gut sein?
- Das ist doch hier alles sinnlos!
In diesem Coachingtermin kam ich das erste Mal mit „Sinn geben“ in Kontakt. Für mich eine komplett neue Welt. Bisher war ich darauf konditioniert einen Sinn zu suchen. Und nun wurde ich eingeladen von jetzt auf gleich Situation oder Dingen einen Sinn zu geben?
Anfänglich war das schwer für mich. Doch im Laufe der Jahre und vor allem durch meine systemischen Weiterbildungen fiel es mir leichter und leichter.
Wenn ich heute gefragt werde: „Was machst du beruflich?“, ist meine Antwort: „Seit 2008 mache ich Aktivurlaub und manche Tage sind sonniger als andere“.
Sinn suchen - Sinn geben?
In meinem Aktivurlaub begegnen mir Menschen mit beruflichen Anliegen, psychischer Belastung und Paar- beziehungsweise Beziehungsproblemen. Die Anliegen sind vielfach aus einer suchenden Position heraus formuliert.
- Ich sehe keinen Sinn (mehr) in meiner Arbeit.
- Wozu soll ich mein Studium abschließen?
- Ich will die Ehe meiner Eltern verstehen.
- Meine / unsere Ehe hat keinen Sinn mehr.
- Ich weiß nicht was ich tun soll.
- und so weiter
Sicherlich ließe sich diese Liste noch endlos weiterführen. Ich mag jedoch an dieser Stelle den Blick auf den Begriff „Suchen“ lenken
.
Jemand der etwas sucht, der hofft etwas zu finden. Die Suche ist mangelmotiviert.
Oder kennen Sie einen Menschen, der zum Beispiel eine neue Beziehung eingehen will, wenn er in seiner bisherigen glücklich und zufrieden ist?
Des Weiteren ist das Suchen nach Sinn tückisch. Es verleitet dazu, Verantwortung zu verschieben.
Für den nicht vorhandenen beziehungsweise nicht gesehenen Sinn werden die Gegebenheiten, die beteiligten oder nicht beteiligten Personen oder andere Dinge verantwortlich gemacht. Dadurch entsteht ein Gefühlserleben, welches für einen Menschen belastend werden kann.
Betrachten wir uns in diesem Zusammenhang nun das Wort „Geben“ etwas genauer.
Beginnt ein Mensch, einer Situation oder Gegebenheit einen Sinn zu geben, wird er aktiv. Er gestaltet, er übernimmt Verantwortung.
Ein Zitat von Hermann Hesse lautet: „Wir verlangen, das Leben müsse einen Sinn haben - aber es hat nur ganz genau so viel Sinn, als wir selbst ihm zu geben imstande sind.“
Im beruflichen Kontext, bevorzugt im Rahmen eines Bewerbungsgespräches, kann uns die verantwortungsvolle und kreative Fähigkeit des Sinngebens ebenfalls begegnen.
Der Mitarbeiter aus der Personalabteilung zeigt der sich bewerbenden Person einen Bleistift und stellt ihr die Aufgabe: „Nennen sie 7 Möglichkeiten, diesen Bleistift noch zu benutzen.“
Bevor Sie weiterlesen, überlegen Sie kurz. Fallen Ihnen 7 Möglichkeiten ein?
Hier ein paar Ideen:
- als Zeigestock
- als Palmstick (eine kurze Schlagwaffe die auch in einigen Kampfkünsten als „Nervenstock“ bezeichnet wird) der in der Selbstverteidigung eingesetzt werden kann
- als Spieß, um zum Beispiel Trauben oder andere Obststücke aufzuspießen, ohne sich die Finger zu beschmutzen
- als Wurfgegenstand oder Pfeil (wenn ein passender Bogen zur Hand ist)
- als Tür- oder Fensterkeil
- um eine Sonnenuhr zu bauen
- als Rührstab um eine Flüssigkeit umzurühren
Jede der vorgenannten Möglichkeiten basiert auf einem Sinn, der von der Person, welche den Bleistift nutzt, konstruiert wird.
In unserer Gesellschaft ist kausales Denken, also das Denken in Ursache und Wirkung weit verbreitet. Wenn eine Ursache eine unvorhergesehene Wirkung entstehen lässt, die nach Luhmann außerhalb der inneren Ordnung liegt, beginnt die Sinnsuche. Diese kann zu emotionalen oder psychischen Belastungen führen, da die Ursache nicht zu der kalkulierten Wirkung geführt hat. Als Beispiel sei hier ein Klassiker der Trennungsgründe von Paaren genannt. Der Mann arbeitet und arbeitet, um seine Frau und eine mögliche Familie zu versorgen. Durch seine ständige Abwesenheit wegen der vielen Arbeit fühlt sich die Frau allein gelassen oder sogar vernachlässigt. Nach einiger Zeit verlässt die Frau den Mann. Der Mann versteht die Welt nicht mehr: „Aber warum verlässt meine Frau mich. Ich habe doch immer für sie gesorgt und alles für sie getan!“.
Im Rahmen des (radikalen) Konstruktivismus kann bei einem Ereignis, gleich ob es angenehm oder unangenehm ist, eine Sinnkonstruktion eingeleitet werden. Also weg von „Welchen Sinn hat das?“ hin zu „Welchen Sinn gebe ich?“. In dem vorgenannten Beispiel könnte dem Mann in der Beratung die Frage gestellt werden: „Welchen Sinn geben Sie Ihrer Arbeit und welchen Sinn geben Sie auf der anderen Seite Ihrer Ehe / Beziehung?“
Sich im Sinn geben üben
Die gute Nachricht zum Ende ist: das Sinn geben lässt sich üben.
Die nachfolgende Übung habe ich während meiner Ausbildung zum EMDR-Therapeuten kennengelernt und halte sie vor allem in Veränderungsprozessen als Unterstützung für brauchbar.
Die Übung heißt „positiver Sinn“ und benötigt lediglich 5 bis maximal 10 Minuten pro Tag. Mein Tipp an dieser Stelle ist, diese Übung 4 bis 6 Wochen zu machen und sich seine Gedanken dazu über diesen Zeitraum aufzuschreiben. Das ermöglicht eine Nachbetrachtung.
Ablauf der Übung „positiver Sinn“:
Einmal pro Tag, am effektivsten kurz vor dem zu Bett gehen, nehmen Sie sich 5 bis 10 Minuten Zeit und beantworten sich selbst die zwei nachfolgenden Fragen:
1. Welcher positive Sinn liegt im…
- schlimmsten
- besten
- scheinbar unwichtigsten
…Ereignis des Tages?
2. Worauf freue ich mich morgen?
Der Effekt der Übung liegt darin, dass belastende Ereignisse noch einmal betrachtet werden und die Möglichkeit zur Verarbeitung erhalten. Des Weiteren wird die Aufmerksamkeit auf vergangene, angenehme Erfahrungen des Tages gelenkt und es findet eine freudige Ausrichtung auf den nächsten Tag statt.
Fazit:
Das Sinn geben hilft, dem eigenen Wirken Ausdruck zu verleihen. Daher mag ich abschließend Hermann Hesse noch einmal zitieren: „Wir verlangen, das Leben müsse einen Sinn haben - aber es hat nur ganz genau so viel Sinn, als wir selbst ihm zu geben imstande sind.“
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Karin Hesse (Montag, 21 März 2022 21:45)
Lieber Herr Hupke, Ihre Gedanken u Ausführungen zum Wort "Sinn" hat mich sehr angesprochen. Der Artikel passt perfekt zu meiner jetzigen Lebenssituation. Vielen Dank dafür. Liebe Grüße Karin Hesse
Stefan Siebert (Sonntag, 21 August 2022 15:31)
Lieber Peter,
danke für das tolle Gespräch gestern und den Hinweis auf diesen Artikel in Deinem Blog. Gefällt mir sehr gut, vor allem auch der Schluss mit der praktischen Übung. Dir weiterhin einen, für Dich "sinnvollen" Aktivurlaub. Danke Stefan